Bearbeitung oder Rekonstruktion?

Anmerkungen zum Bratschenkonzert e-moll von Dr. B. Billeter

Vorbemerkung: Jeder Bratschist kennt das Bratschenkonzert c-moll von Chr. Bach/Casadesus. In den Noten heisst es: „Reconstitué par Henri Casadesus“, zu deutsch „Rekonstruiert durch Henri Casadesus“. In Tat und Wahrheit ist aber keine einzige Note dieser gekonnt gearbeiteten Neuschöpfung Christian Bach zuzuordnen, denn das Werk stammt gänzlich aus der Feder des 1947 verstorbenen Bratschisten Casadesus, der in Harmonik und Melodieführung in keiner Weise auf die „musikalische Handschrift“ von Christian Bach Bezug nimmt. Im vorliegenden Falle des e-moll-Konzertes stammt aber die Violastimme fast ausschliesslich von Telemann, alle übrigen Stimmen lehnen sich ang an die Schreibweise des Komponisten an. Stil, Satzweise, besondere Freiheiten, Charakteristika der Schreibweise von Telemann sind recht gut erforscht. Bearbeitungen dieser Art waren üblich und geschätzt. Der Komponist hätte dieses Werk so schreiben können... Bearbeitung oder Rekonstruktion? (C.Z.)

Zur Bearbeitungstechnik im Bratschenkonzerts e-moll
Leider fehlen uns Begriffe, die das grosse Feld der Bearbeitungen näher einteilen könnten. So fallen darunter entsetzliche Verballhornungen, zum Beispiel ein Adagio von Albinoni (mit dem eine Motivverwandtschaft zum ersten Satz von Telemann besteht) in einem süsslichen Stil, dem man zwar die Herkunft aus dem 19. Jahrhundert anmerkt, aber kaum das Qualitätssiegel „romantisch“ anhängen wird, oder die vielerlei Fassungen von Mozart-Opern, die von Klavier vierhändig bis zu vier Querflöten reichen, überflüssig geworden in unserem Zeitalter der Tonkonserven. Sie haben den Begriff der Bearbeitung in Misskredit gebracht. Zur Epoche Telemanns waren Bearbeitungen, wie Conrad Zwicky in seinem CD-Text darlegt, hoch im Kurs. Nennen wir nur zwei weitere Beispiele: Händels Flötensonate in F-dur, die im Sinne eines Recycling auch als Orgelkonzert und Opernballett-Einlage Verwendung fand, und Johann Sebastian Bachs Tripelkonzert in a-moll BWV 1044, entstanden aus Präludium und Fuge in a-moll BWV 894 (vor 1714, für die Ecksätze) sowie aus dem Mittelsatz der Triosonate für Orgel BWV 527. Äusserst interessant ist, Bachs Bearbeitung mit der Vorlage zu vergleichen: In den Rahmensätzen ändert Bach nicht nur die Instrumentierung, sondern fügt ganze Taktgruppen ein.
Dem Typus nach wählt Conrad Zwicky ein ähnlich phantasievolles Vorgehen: Das Anfangs- und Schlussritornell des ersten Satzes von sechs 12/8-Takten wurde von ihm neu komponiert – die gehörsmässige Erinnerung an den Anfangschor von Bachs Matthäuspassion geht nicht über den Orgelpunkt, die Taktart und Elemente der Harmonik hinaus. Die Solostimme hingegen ist gegenüber Telemanns Fantasie unverändert. Im zweiten Satz eröffnen je 14 Takte Orchester die beiden Teile; ihre Motivik und Quintfallsequenz fügt sich organisch ein. Sowohl im zweiten wie im vierten Satz übernimmt die erste Geige gelegentlich Telemanns Vorlage und gibt so der Solobratsche Gelegenheit zu Ruhepunkten. Wie soll man diese Bearbeitung bezeichnen? Es ist ein Mittelding zwischen Neukomposition im Stile Telemanns und einer Harmonisierung sowie Instrumentierung der einstimmigen Vorlage.
Bernhard Billeter